Die Visegrád-Kooperation wurde 1991 von der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn gegründet, „um die Zusammenarbeit und das Streben nach europäischer Integration von drei ehemaligen kommunistischen Ländern zu fördern“, und wurde 1993 zu den Visegrád-Vier, als die Tschechische Republik und die Slowakei aus der Tschechoslowakei wurden. Sie bietet den vier mitteleuropäischen Ländern seither einen Rahmen für ihrer außenpolitische Zusammenarbeit. (Törő et al., 2014: 366).

Die vier Staaten haben nicht nur eine Geschichte als Satellitenstaaten der Sowjetunion gemeinsam, sondern auch den erfolgreichen Versuch einer schnellen „Rückkehr nach Europa“ nach 1989 (Kazharski, 2018 :761). Bereits in dieser Zeit lässt sich beobachten, dass das Visegrád-Format den beteiligten Staaten half, ihre gemeinsamen Interessen gegenüber der EU und gegenüber Russland zu vertreten, nämlich Mitgliedschaft und Unabhängigkeit (vgl. Schmidt, 2016: 118-119). Dennoch war das Format in hohem Maße davon abhängig, dass alle Mitgliedsstaaten außer Polen auf das gemeinsame Format angewiesen sind, um mehr Gewicht bei der Vertretung außenpolitischer Interessen zu gewinnen. Dies lässt sich an der langen Reihe von ernsthaften Auseinandersetzungen, die von der Minderheitenpolitik in der Region bis zum Umgang mit Russland reicht, veranschaulichen. (für einen Überblick darüber siehe Koß und Séville, 2020 :97-98).

Bis zum Beitritt der Visegrád-Staaten zum Schengen-Raum wurde genau dieses Ziel oft als Mittelpunkt der gemeinsamen politischen Positionen innerhalb der EU wahrgenommen. Besonders an dem Format der Visegrád-Kooperation ist, dass sie keine fest etablierte bürokratische Struktur hat und stattdessen durch eine Rotation der Präsidentschaft zwischen den Ländern organisiert ist, wobei der Staat, der den Vorsitz innehat, für alle Aktivitäten der Gruppe auf allen Ebenen verantwortlich ist. Die einzige Ausnahme von diesem Prinzip ist der sogenannte Visegrád-Fonds (Törő et al., 2014.: 367-8). Obwohl die Gruppe regelmäßig gemeinsame Erklärungen beschließt (ebd.:372), hat sich diese Struktur nach Ansicht der meisten Politikwissenschaftler vor 2015 nicht als ausreichend erwiesen, um „eine Verpflichtung zur Blocksolidarität auf jedem Gebiet von gemeinsamem Interesse“ zu schaffen, was dazu führt, dass sie oft als eine stabile, aber begrenzte Form der Zusammenarbeit beschrieben wird (ebd.: 368). Begrenzt sowohl in Bezug auf eine gemeinsame „regionale Bottom-Up-Identität “ als auch in Bezug auf Positionen zu wichtigen politischen Fragen, die von allen vier Ländern geteilt werden, dafür aber mit einer „Quasi-Identität, die im politischen Denken tief verwurzelt“ sei, aber ohne große gesellschaftliche Wirkung bleibe. (Kořan, 2012: 201, zitiert in Cabada, 2018: 168). Es ist Teil der Selbstbeschreibung der Visegrád-Gruppe, dass „Tschechien, Ungarn, Polen und die Slowakei immer Teil einer einzigen Zivilisation waren, die kulturelle und intellektuelle Werte und gemeinsame Wurzeln in verschiedenen religiösen Traditionen teilte, die sie bewahren und weiter stärken wollen“ (Visegrád-Gruppe, o.J.).

Seit dem Sommer 2015 fällt die Visegrád-Gruppe auf der europäischen Ebene aber immer wieder eher als Gegner der europäischen Integration oder zumindest der Form der liberalen Integration, die von Regierungen wie der von Angela Merkel gewünscht wird, auf. In Polen gibt es spätestens seit dem Sieg der PiS-Regierung bei der Wahl im Herbst des Jahres 2015 ähnliche Tendenzen als die rechtsautoritäre Partei im Wahlkampf darauf setzte die liberale Haltung der vorausgegangenen Regierung in der Frage, wie viele Flüchtlinge Polen Aufnehmen sollte, heftig zu kritisieren (Economist, 2016).

Die Visegrád-Gruppe wurde während der Flüchtlingskrise zu einem Akteur, der ein gemeinsames europäisches Asylsystem mit einem Umverteilungsmechanismus bis heute verhindert (vgl. z.B. Wolchik und Curry, 2018: Kap. 9-.11). Außerdem konnten die Mitgliedsstaaten dann politische Differenzen bei verschiedenen Themen, wie der Sicherheitspolitik gegenüber Russland oder der Minderheitenpolitik in der Region, beilegen und einen gemeinsamen Standpunkt zur Migrationspolitik zu finden. Nicht nur die Aufmerksamkeit für das Format stieg in der Folge deutlich an, sondern auch die Koordination innerhalb des Formats. Beispielsweise haben sich die Treffen der Ministerpräsidenten der V4 nach dem Herbst 2015 mehr als verdoppelt (Koß und Séville, 2020:100). Manche Beobachter gehen sogar so weit, „die zweite Hälfte des Jahres 2015“ den Moment zu nennen, „in dem die V4 [Visegrád-Staaten] zu einer Marke wurde[n]“ (ebd.: 101).

Es sollte erwähnt werden, dass bei der Markenbildung auch wirtschaftliche Interessen eine wichtige Rolle spielten. Die Freizügigkeit im Schengen-Raum ist für die vier Staaten aufgrund des großen Umfangs der Arbeitsmigration und der damit einhergehenden Rücktransfers sehr wichtig, und sie befürchteten zudem, dass die Gelder, die sie aus den Kohäsionsfonds der EU erhalten, zumindest teilweise zu Gunsten der Geflüchteten gehen hätte können. (ebd.: 98). Dies belegen die Presseerklärungen der Gruppe aus dieser Zeit, die sich die sich fast ausschließlich auf die Sicherheit der Grenzen, die Notwendigkeit eines weiteren Zusammenhalts der EU in wirtschaftlicher Hinsicht und auf die Notwendigkeit, die Freizügigkeit innerhalb des Schengen-Raums zu schützen, beziehen (Koß und Séville, 2020). Aber es wurde auch immer wieder festgestellt, dass die Zusammenarbeit erst volles Gewicht erlangte, als die vier Staaten neben der Anerkennung gemeinsamer wirtschaftlicher Interessen auch mit der Politisierung von Identitätsfragen begannen (ebd.: 103).

Das Resultat war die Ablehnung fast aller Asylsuchenden, obwohl Ungarn das einzige Land war, das eine beachtenswerte Migration erlebte (wenn auch natürlich hauptsächlich Transitmigration, da die Mehrheit der in Ungarn ankommenden Menschen in andere EU-Mitgliedstaaten unterwegs war). Das Ergebnis war, dass bis Mitte 2017 12 Asylsuchende von der Tschechischen Republik aufgenommen wurden; die Slowakei nahm 16 auf, während Polen und Ungarn niemanden aufnahmen (Bauerová, 2018 :105). Das Argument, dass diese Länder nicht auf erhebliche Migration vorbereitet seien, weil sie keine historischen Erfahrungen mit Migration oder einer multikulturellen Gesellschaft hätten, wird immer wieder vorgebracht. Dieses Argument beruht jedoch auf einem falschen Bild von ethnisch homogenen Gesellschaften in der Region, das auch historisch nichtzutreffend ist [1].

Auch wenn die Visegrád-Staaten zuletzt wieder vor allem in den westlichen Medien auftauchten, als sie wegen Bedenken zum Rechtsstaatsmechanismus drohten ihr Veto einzulegen und so auch ein Scheitern des gesamten wirtschaftlichen Wiederaufbauplanes für die EU riskierten (De la Baume & von der Burchhard, 2020), sollte auch nicht vergessen werden, dass die liberaleren politischen Kräfte in den vier Staaten inzwischen wieder populärer zu werden scheinen. Dies wird wohl am symbolträchtigsten mit dem sogenannten „Pakt der freien Städte“, den die Bürgermeister der vier Hauptstädte 2019 unterzeichneten und darauf aufmerksam zu machen, dass nicht alle Bürger ihrer Länder den Kurs der nationalen Regierungen gegenüber der EU für gut befinden, veranschaulicht (Hopkins & Schotter, 2019).

 

Referenzen:

BAUEROVÁ, H. 2018. Migration Policy of the V4 in the Context of Migration Crisis. Politics in Central Europe, 14, 99-120.

CABADA, L. 2018. The Visegrad cooperation in the context of other central European cooperation formats. Politics in Central Europe, 14, 165-179.

DE LA BAUME, M. & VON DER BURCHARD H. 2020. Von der Leyen threatens EU recovery fund without Hungary and Poland [Online]. Politico. Eu. Available: https://www.politico.eu/article/the-commission-proposes-eu-recovery-without-hungary-and-poland/ [Zuletzt abgerufen am 26.01.2021].

ECONOMIST, T. 2016. Big, bad Visegrad [Online]. The Economist. Available:
https://www.economist.com/europe/2016/01/28/big-bad-visegrad [Zuletzt abgerufen am 23.01.2021].

HOPKINS, V. & SHOTTER, J. 2019. Liberal mayors from Visegrad Four unite to defy own governments [Online]. Financial Times. Available: https://www.ft.com/content/e9128e40-1d72-11ea-97dfcc63de1d73f4 [Zuletzt abgerufen am 24.01.2021]

KAZHARSKI, A. 2018. The end of ‘Central Europe’? The rise of the radical right and the contestation of identities in Slovakia and the Visegrad Four. Geopolitics, 23, 754-780.

KOŘAN, M. 2012. The Visegrad Group on the Threshold of Its Third Decade: A Central European Hub? Regional and international relations of Central Europe. Springer.

KOß, M. & SÉVILLE, A. 2020. Politicized transnationalism: The Visegrád countries in the refugee crisis. Politics and Governance, 8, 95-106.

TÖRŐ, C., BUTLER, E. & GRÚBER, K. 2014. Visegrád: The evolving pattern of coordination and
partnership after EU enlargement. Europe-Asia Studies, 66, 364-393.

VISEGRAD GRUPPE. o.J. About the Visegrad Group [Online]. Available:
http://www.visegradgroup.eu/about [Accessed 19/01 2021]

WOLCHIK, S. L. & CURRY, J. L. 2018. Central and East European politics: from communism to
democracy
, Rowman & Littlefield.

[1] Der Verweis auf traditionelle ethnische Homogenität ist für alle diese Länder historisch falsch und eher ein Ergebnis der geopolitischen Folgen des Zweiten Weltkriegs. Polen ist außerdem auch heute noch der Einzige der 4 Staaten, ohne nennenswerte ethnischen Minderheiten, siehe z. B. WOLCHIK, S. L. & CURRY, J. L. 2018. Central and East European politics: from communism to democracy, Rowman & Littlefield. , Kapitel 9-11.