Ich bin mir sicher, ich bin nicht die Einzige der es so geht. Der Krim-Konflikt. Die Medien haben zwar über ihn berichtet, doch richtig auskennen tut man sich trotzdem nicht. Welchen Fakten darf man trauen? Welcher Seite soll man Recht geben? War das Referendum fair? Oder doch alles gefaked? Und wie sieht die Lage auf der Krim und in der Ost-Ukraine eigentlich heute aus?

Im August hatte ich die Gelegenheit vier Studenten und Studentinnen aus der Krim-Region zu interviewen. Auf einer sonnigen Wiese in den Alpen haben sie mir ihre ganz persönlichen Eindrücke dessen was vor, während und nach dem Referendum am 16. März 2014 passiert ist, berichtet. Das Interview ist in fünf spannende Teile gegliedert und kann auf fomoso.org nachgelesen werden.

Kadyr T. (20) studiert Türkische und Englische Übersetzung an der Universität von Kiew und der Atatürk Universität in der Türkei. Er stammt aus Uskut (Krim) und lebt nun seit fast drei Jahren in Kiew.

Nastya S. (25) arbeitet an der School of Journalism (UCU) an der Katholischen Universität der Ukraine. Zudem engagiert sie sich für ein besseres Bildungssystem. Sie stammt aus Donezk und lebt seit drei Jahren in Lviv, im Westen der Ukraine.

Praskrovja B. (26) arbeitet für das „Educational Human Rights House“ und stammt aus Yalta (Krim). Vor drei Jahren hat sie die Krim verlassen und ist in den Norden der Ukraine gezogen. Ihre Mutter ist gebürtige Russin, und ihr Vater stammt aus der Ukraine.

 

Interview:

Nastya, du warst eine aktive Teilnehmerin am Maidan in Kiew. Schildere uns bitte deine Eindrücke.

 Nastya: Während den Protesten, kam eine alte Dame zu mir. Man hat ihr angesehen, dass sie sehr nervös und besorgt war. Sie sagte: „Aber, jetzt herrscht das Nazi Regime in Deutschland. Sie werden kommen und uns töten. Es herrscht ein Nazi Regime in Deutschland.“ Ich antwortete: “Liebe alte Dame. Es gibt schon lange kein Nazi Regime mehr in Deutschland.“ Sie blickte noch verstörter und sagte: „Wie?“ Ich entgegnete ihr: „Das war alles vor dem Krieg.“ Sie blieb weiterhin sehr besorgt.

Die Leute wissen einfach nicht was in der Außenwelt passiert. Und ich weiß, sie war eine alte Dame und in diesem Alter kommt es wohl leichter zu Existenzängsten. Aber sie ist ein wirklich gutes Beispiel für die Angst der Bevölkerung auf der Krim und in der Ost-Ukraine. Oder, der Ausruf eines Mannes, als ich den Protest verlassen habe: „Okay, aber wenn die Neger kommen und euch vergewaltigen, werden wir euch nicht helfen!“ Die Leute hatten Angst. Diese tief in einem Menschen verwurzelte, grundliegende, tierische Angst. Angst, dass etwas kommen wird, das sie und ihre Identität zerstört.

Praskrovja: In Yalta sagen Leute, dass die Holländer Sex mit Tieren haben und das dort gesetzlich legitim sei. Sie glauben, wenn die Ukraine den „europäischen Weg“ einschlägt, wird hier das gleiche passieren. Und das glauben nicht nur die älteren Leute.

Kadyr: Es ist einfach solche Leute zu manipulieren, die, wie soll ich sagen, ignorant sind. Ein Großteil der UkrainerInnen war noch nie im Ausland. Sie wissen nichts über das Leben in Holland oder in Deutschland.

Nastya: Genau. Und die Statistiken sind einfach nur faszinierend. Vor ungefähr zwei Jahren habe ich dieses Paper gefunden in dem steht. Ich weiß es nicht auswendig. Aber, dass definitiv mehr als die Hälfte –

Kadyr: …um die 70%. Ich habe den Bericht auch gelesen.

Nastya: … okay, um die 70% der UkrainerInnen noch nie im Ausland waren.

Praskrovja: Ja, viele Leute auf der Krim waren noch nie in Russland. Und trotzdem haben sie für die Annexion gestimmt. Ist das nicht verrückt?

Kadyr: Und sie waren gleichzeitig auch noch nie in der Ukraine.

(Alle lachen)

Praskrovja: Die Krim ist eine Halbinsel. Es gibt dort viele Sachen zu sehen und zu tun.

Kadyr: Es ist wie ein kleines Land.

Nastya: Ja, es ist verrückt. Und was macht man dann, wenn man noch nie die eigene Region, geschweige denn das eigene Land verlassen hat? Wie bildest du dir eine Meinung über die Welt? Du wendest dich an die Medien. Und was machen die Medien? Tja, du schaust die russischen Nachrichten, also kann man sich den Rest selbst zusammenreimen.

Kadyr: Ein gutes Beispiel für jene Leute, die noch nie im Ausland waren, bin ich selbst: In meinem letzten Jahr an der Schule habe ich mich um nichts gekümmert. Ich wollte einfach nur mein Leben leben. Eine Familie gründen. Ein Business eröffnen. Ich wollte nicht einmal in die Ukraine. Wir hatten alles auf der Krim.

 

Und jetzt bist du in Österreich.

Kadyr: Ja! Und um ehrlich zu sein, habe ich bis vor kurzem selbst nicht realisiert, was in der Krim und in der Ukraine passiert ist und weiterhin geschieht. Ich habe das alles wirklich erst dann zu verstehen begonnen, als ich die Krim verlassen habe. Das ist das Problem.

Praskrovja: Ja, und ich glaube dieses Problem betrifft nicht nur die Ukraine. Das Problem mit der Propaganda und der mangelnden Auslandserfahrung findet man auch in Litauen, in Georgien, in erm…

Alle: Moldawien!

 

Bildquelle: https://www.alphagamma.eu/opportunities/european-forum-alpbach-2017/