Balkan. Ein Begriff, der im Sprachgebrauch oftmals mit negativen Bildern wie Korruption oder Gewalt in Verbindung gebracht wird. Die Verwendung eines symbolischen Balkans ist im deutschsprachigen Diskurs noch allgegenwärtig, wie man zum Beispiel am Meinungsbeitrag „Der Balkan am Rhein“  der NZZ.at am 26.07.2016 sehen kann. Die Beschreibung „Ost-Österreichs“ (alles östlich des Arlbergs) geht einher mit einer Aneinanderreihung negativer Stereotype wie „Schludrian“, „Filz“ oder „Korruption“, die mit dem Balkan assoziiert werden. Dies sei nur ein exemplarisches Beispiel, wie sehr „DER Balkan“ immer noch bei deutschsprachigen Medien oder Individuen im Generellen mit negativen Bildern verbunden ist. Genau diese bekannten und oftmals abwertenden „Images“ und Stereotype möchten Baleva und Previšić mit ihrem Sammelband Den Balkan gibt es nicht aufbrechen.

Die beiden Autoren, Kunsthistorikerin sowie Literatur- und Kulturwissenschaftler, führen selbst in das Thema ein und geben einen Überblick über das Dilemma des Balkans: Ist es nun ein Gebirge? Ein Raum? Eine Kultur? Oder doch etwas ganz anderes? Im Beitrag selbst wird nicht versucht, auf diese Frage eine Antwort zu finden, viel mehr werden mögliche Erläuterungsansätze kurz skizziert. Die Autoren identifizieren die kausale Verknüpfung von Raum und Kultur als ein oft auftretendes Grundproblem, wenn vom Balkan die Rede ist. Näher eingegangen wird auf die akademische Debatte des Historikers Holm Sundhaussen und der Historikerin Maria Todorova: Ersterer vertritt einen historischen Balkanbegriff, der sich im Laufe der Zeit entwickelte, während letztere den Balkanismus-Diskurs begründete. Dieser besagt, dass der Balkan eigentlich nur symbolisch existiere und vor allem durch die Balkankriege 1912/13 und den 1. Weltkrieg entstanden sowie später durch die post-sozialistische Desintegration Jugoslawiens wieder verstärkt in Erscheinung getreten sei. Dabei stehe die Essentialisierung des Balkans als Europas „internes Anderes“ dem sogenannten Westen, der positiv konnotiert wird, gegenüber. Das von Baleva und Previšićs editierte Buch geht, auch wenn sie im Laufe des Sammelbands immer wieder in Erscheinung tritt, nicht im Speziellen auf diese Debatte ein, sondern versucht durch neue interdisziplinäre Zugänge und differenzierte Blickwinkel eben jene Frage – ob es DEN Balkan nun gibt oder nicht – zu relativieren. Dabei bleibt die persönliche Einstellung der Herausgebenden nicht verborgen: Wie es auch der Titel zeigt, sind sie der Meinung, dass es „DEN“ Balkan nicht gebe, denn die Region zeichne sich in erster Linie durch Brüche und Schnittstellen aus, wodurch ein derart reichhaltiges und komplexes Erbe entstanden sei, welches sich nicht auf einfache Zuschreibungen begrenzen lassen würde.

 

Der Balkan im Blick der Geschichte, Kunst, Literatur und Religion

Um diese These zu untermauern und eben jene neuen Perspektiven auf den Balkan aufzuzeigen, wurden diverse Fachleute unterschiedlicher Disziplinen eingeladen. Diese Interdisziplinarität wird vor allem aus den Bereichen der Geschichte, Religion, Literatur sowie Kunst getragen und behandelt sowohl zeitgeschichtliche Aspekte als auch bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Themen. Bei der Lektüre der elf Kapitel wird ersichtlich, dass sich unter den Autoren und Autorinnen auch solche wiederfinden, die trotz des negativen Beigeschmacks für die Verwendung bzw. für die Existenz des Balkan-Begriffs argumentieren. Im Folgenden werden vier Beiträge etwas näher und die restlichen in aller Kürze präsentiert:

Der Historiker Daniel Ursprung, der anhand der Beispiele Rumänien (eig. Walachei/Moldau) und Albanien während der Osmanischen Herrschaft den Balkan als Kommunikationsregion analysiert, argumentiert, dass es den Balkan sehr wohl gibt, es gehe nicht um die Frage „ob“, sondern „inwiefern“ es ihn gibt. Dabei bezeichnet er den Balkan als Europäische Meso-Region, in der die Kommunikation zur Osmanischen Zeit als verdichtet wahrgenommen wurde, während danach (und heute) parallele, aber analoge Kommunikation stattgefunden hat. Dadurch kommt Ursprung zur Schlussfolgerung, dass der Balkan existiert, sich verändert und aufgelöst hat und unter anderen Voraussetzungen neu entstanden ist.

Ebenso als Befürworter des Balkan-Begriffs zeigt sich Karl Kaser (Historische Anthropologie), der sich nicht mit der grundsätzlichen Frage auseinandersetzt, ob der Diskurs ein Konstrukt ist, sondern danach forscht, wie dieser entstanden ist. Er argumentiert, dass die „erste visuelle Revolution“ am Balkan mit Beginn des 20. Jahrhundert stattfand, sich dadurch „visuelle Machtbeziehungen“ entwickelten und somit „Beweismaterial“ für die negativen Konnotationen mit der Region gesammelt wurde.

Eine Revision des Balkanismus-Diskurses fordert die Kunsthistorikerin Martina Baleva, denn der von ihr definierte visuelle Balkanismus unterscheidet sich nicht nur von Todorovas männlichem Textdiskurs, sondern auch vom visuellen Orientalismus. Sie analysiert den visuellen Balkan-Diskurs anhand von Malereien, in denen der Balkan als missbrauchter Frauenkörper imaginiert wird (nicht sexualisiert und erhöht wie im Orientalismus). Gleichzeitig wird auch der Topos Gewalt transportiert, denn es ist der osmanische Vergewaltiger, der die christlich-balkanische Frau missbraucht.

Tanja Zimmermann, ebenfalls Kunsthistorikerin, zeigt, dass das sozialistische Jugoslawien sich anhand einer positiv konnotierten Vergangenheit begründete (Ursprungsmythos), um eben jene negative Stereotype des Balkans abschütteln zu können. Dabei wurde die negative Rückständigkeit ersetzt durch positive Verknüpfungspunkte: Die autonome, archaische südslawische Kultur wurde hierfür besonders betont. Zusätzlich wurde der Diskurs durch die neu entstandenen Nationalstaaten in der post-sozialistischen Phase und deren antikisierende Orientierung und Geschichtsinterpretation (z.B. Mazedonien) bekämpft.

Die anderen Beiträge in aller Kürze skizziert: Zwei historische Beiträge beschäftigen sich mit der Erforschung einer Betrachtungsweise, die vom eurozentrischen Bild abweicht: Maurus Reinkowski beleuchtet die osmanisch-türkische Sicht und Elke Hartmann die armenische Vorstellung der Region. Des Weiteren untersucht Boris Previšić das von Karl May gezeichnete, und durchaus ambivalente, Bild vom Balkan. Louisa Avgita (Kunsthistorikerin) argumentiert, dass es den Balkan nicht gibt, und dass man nur versucht hat, diesen mittels positiven Stereotypen (in der Kunst; als Verkaufsargumente) aufzuwerten und somit die Existenz eines „wahren“ Balkans suggeriert hat. Nada Boškovska untersucht die Inszenierung des Selbstbildes anhand des Fallbeispiels Makedonien, das im Rahmen der Nationsfindung und -bildung mit dem Projekt „Skopje 2014“ neue Wege eingeschlagen hat. Samuel M. Behloul untersucht die Rolle von Religion im Identitätsbildungs- und Abgrenzungsprozess der muslimischen Diaspora in der Schweiz: Balkan-Muslime werden hierbei als „europäisch“ gesehen und somit als „unproblematisch“ im Vergleich dargestellt. Abgrenzungen und Zuschreibungen sind ein beständiger Prozess, sowohl in der Schweiz, als auch am Balkan selbst; dadurch könne man fragen: „Der Balkan existiert, aber wo?“. Den Abschluss bildet der Journalist Andreas Ernst, der die Perspektive der Westbalkanstaaten bezüglich EU beleuchtet und die These aufstellt, dass die Imperiale Epoche am Balkan noch nicht zu Ende sei, die EU jedoch ein sehr „eigenartiger Imperialist“ sei. Die „westliche“ Einstellung (negative Stereotype) gegenüber dem Balkan sieht er als mitverantwortlich für das Missmanagement in der Region.

 

Aufruf zu mehr Sensibilität im Umgang mit dem Begriff des Balkans

Bei der Lektüre wird klar, dass sich dieser Sammelband aus einer universitären Vortragsreihe zusammensetzt. Dies erklärt auch die Art der Beiträge, die sich eher an einer essayistischen Form orientieren und deren Hauptaugenmerk darauf liegt, eben jene neuen Blickwinkel zu ermöglichen. Dadurch fehlt jedoch auch eine gewisse wissenschaftliche Nachhaltigkeit, in vielen Beiträgen werden spannende, aber unbeantwortete Thesen formuliert. In diesem Sinne richtet sich das Buch in erster Linie an ein nicht ausschließlich wissenschaftlich orientiertes Publikum sowie in weiterer Folge an eine interdisziplinär orientierte Forschung. Im Großen und Ganzen fehlt dem Sammelband eine stringente Linie, denn obwohl sich die Formulierung „Den Balkan gibt es nicht“ hierfür hervorragend geeignet hätte, wird diese in manchen Beiträgen entweder nur marginal oder überhaupt nicht behandelt. Ersichtlich ist dadurch aber auch, dass die Debatte rund um den Balkanismus-Diskurs keineswegs ein Ende findet, sondern es noch vieler neuer Forschungsansätze und differenzierter Blickwinkel bedarf. In diesem Sinne ist dieser Sammelband ein wertvolles, angenehm zu lesendes Werk, das zwar nicht „DEN“ symbolischen Balkan abschaffen kann, jedoch im Sinne der Herausgebenden sehr wohl zu einem sensibleren Umgang mit einem äußerst komplexen und vielschichtigen Begriff des Balkans im deutschsprachigen Diskurs anregt.

 

Baleva, Martina und Previšić, Boris (Hg.). „Den Balkan gibt es nicht“. Erbschaften im südöstlichen Europa. Köln, Weimar, Wien. Böhlau Verlag, 2016. 223 S., ISBN 978-3-412-22531-5