Grau, verlassene Fabriken, die typische Landschaft einer postindustriellen Stadt…Ruft die polnische Stadt Lodz bei Ihnen immer noch solche Bilder auf? Dann schlagen wir vor, die Stereotypen abzubauen und diese einzigartige Stadt der vier Kulturen näher kennenzulernen.

Natürlich ist das industrielle Erbe der Stadt nicht verschwunden, denn die Ära der Textilmetropole ist ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte der Stadt. Im Moment erlebt die Stadt jedoch eine «zweite Jugend» und eine riesige Schicht multikulturellen Erbes wird neu interpretiert, um die einzigartige Aura, die die Stadt besitzt, hervorzuheben.

Aber woraus besteht diese unglaubliche Aura, die von der ersten Minute an zu spüren ist? Die Sache ist die, dass Lodz seit langer Zeit ein Ort der Vermischung von Kulturen und Nationalitäten – ein multinationales Industriezentrum im Herzen Polens – ist. Seit Jahrzehnten existieren in Lodz friedlich vier Kulturen – Polnische, Deutsche, Jüdische und Russische, von denen jede einen Einfluss auf die gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung der Stadt hatte.

Ihre Blütezeit erlebte die Stadt im 19. Jahrhundert, als sie Teil des Russländischen Reiches war. 1820 erklärte Fürst Konstantin Pawlowitsch Lodz zur Fabrikstadt. In wenigen Jahrzehnten wurde Lodz dank mehrfacher Investitionen und harter Arbeit von Juden, Deutschen, Russen und Polen zum wichtigsten Zentrum der Textilproduktion in Europa, wie Andrzej Wajda im Kultfilm «Das gelobte Land» aufzeigt. Neben den Produktionshallen wuchsen exquisite Paläste der Fabrikanten. Heute sind zehn von ihnen zu sehen, darunter der Palast von Israel Poznanski bei seinem ehemaligen Textilunternehmen — der heutigen Manufaktur, dem umgebauten Fabrikraum, in dem sich heute Museen, Theater, Kino, Cafés und Geschäfte befinden.

 

Lodz Manufaktura – Quelle: https://www.poland.travel/ru/regiony-zvezdnye-mesta/lodzkii-region

 

Die jüdische Bevölkerung, die 230 Tausend Menschen zählte, schenkte der Stadt nicht nur die berühmtesten Fabrikanten (Izrael Poznański, Marius Silberstein, Stanislaus Jarotinski, Oscar Kona, etc.), sondern auch Kaufleute, Bankiers, Architekten und Schriftsteller (Julian Tuwim und Jerzy Kosiński). Investoren, Handwerker, Händler und industrielle Unternehmer veränderten das Erscheinungsbild der Stadt, entwickelten ihre Wirtschaft, verbesserten die Infrastruktur, bauten Bibliotheken und Theater, eröffneten Verlage und so weiter. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs gab es in Lodz 250 Synagogen, fast alle wurden zerstört.

Die Multinationalität der Stadt ist auch in ihrer Architektur zu spüren. Die luxuriösen Villen und Einzelhäuser auf der Hauptstraße – Petrakovskaya – gehörten großen Industriellen und Bankiers verschiedener Nationalitäten. Verschiedene religiöse Gebäude passen auch organisch in das Bild der Stadt. Zum Beispiel die orthodoxe Kathedrale von St. Alexander Newski, die Kirche von St. Olga, die einzige erhaltene Synagoge von Reicher und die katholische Kathedrale von Lodz etc. Die Friedhöfe von Lodz sind auch ein Symbol der Offenheit der Stadt und bestätigen ihren multinationalen Status. Auf dem alten Friedhof von Lodz sind Katholiken, Protestanten und Orthodoxe begraben. Auf dem jüdischen Friedhof, der in die UNESCO-Liste aufgenommen wurde, kann man die Gräber der berühmtesten Fabrikanten sehen. An eine schreckliche Seite in der Geschichte der Stadt erinnert der Bahnhof Radegast, von dem 145 Tausend Menschen, vor allem Juden, in den Tod geschickt wurden. Im Holzgebäude der Station befindet sich das Modell vom Lodzer Ghetto.

Jetzt entwickelt sich die Stadt aktiv und überarbeitet ständig ihre Identität. Ein Paradebeispiel ist die Passage der Rose in der Petrakovskaya Straße. Dies ist ein Kunstprojekt der berühmten polnischen Künstlerin Joanna Rajkovskaya. Im Jahr 2014 auf dem Festival „Lodz vier Kulturen“ machte die Künstlerin ein Mosaik aus Spiegeln. So kommentierte die Pressesprecherin des Festivals, J. Tomashevskaya, das Projekt: «Vor dem Krieg war Lodz die Stadt, in der sich verschiedene Kulturen entwickelten: Polnische, Jüdische, Deutsche, Russische. Menschen verschiedener Nationalitäten waren wie Spiegel füreinander. Sie haben unsere Stadt gebaut. Dann begann der Krieg, der Lodz zerstört hat. Wir bleiben auch weiterhin eine schöne Stadt, aber jetzt sind wir wie ein zerbrochener Spiegel. Dieses Projekt symbolisiert das moderne Lodz, das aus Scherben zusammengeklebt ist.“

 

Lodz Fabryczna – Quelle: https://lodz.travel/de/tourismus/praktische-informationen

 

Das Festival „Lodz der vier Kulturen“ ist den multikulturellen Wurzeln der Stadt gewidmet, die seit vielen Jahren ein Ort der Vermischung von Kulturen und Nationalitäten war. Die Idee des Festivals ist es, eine Brücke zwischen Geschichte und Gegenwart zu bauen und Wege zu einer harmonischen Koexistenz verschiedener Völker zu finden, trotz der historischen Belastung, die ihre Beziehung beeinträchtigte. Das Werkzeug, das verwendet wird, um diese Aufgabe zu lösen, ist Kunst, die eine universelle Sprache spricht und Verbindungen zwischen Menschen und Völkern ohne Vorurteile aufbaut und Perspektiven für zukünftige Generationen schafft.

Es gibt kein anderes Festival in Lodz, das so erkennbar und gleichzeitig so «lodzisch“ ist und so tief in der Geschichte der Stadt verwurzelt wäre. Aus diesem Grund weiß ganz Polen, dass Lodz eine multikulturelle Stadt war und bleibt, die Polen, Juden, Deutsche und Russen zusammen entwickelten. Natürlich gab es damals, wie auch heute viel mehr Nationen oder ethnische Gruppen unter den Einwohnern der Stadt, aber diese vier Kulturen haben eine Spur in der Geschichte hinterlassen, die man nicht ignorieren kann.

 

Quellen: