Zypern zeigt Europa seine Grenzen auf. Nicht nur geographisch. Denn die Insel im östlichen Mittelmeer liegt näher an der Türkei, Israel und dem Libanon, als an den Ländern der Europäischen Union, trotz komfortabler Nähe zu einigen griechischen Inseln in der Ägäis. Dass seit Zyperns EU-Beitritt 2004 das Pseudo-Argument eines geographischen Kerneuropas hinfällig wird, welches Gegner:innen weiterer EU-Beitritte häufig einwenden, ist dank Zyperns Existenz als vergessene Randnotiz Europas nicht allzu offensichtlich.

Auch das europäische, kollektive Bewusstsein und Gedächtnis bringt es an seine Grenzen. Denn so ist Zypern wenigen ein Begriff oder im Bewusstsein, weder als EU-Mitgliedsland, noch als Reiseziel, höchstens aus dem Käseregal, wenn man im Sommer Halloumi zum Grillen kauft. Dass diese ehemalige britische Kolonie die letzte geteilte Hauptstadt Europas hat, dass dort seit 1964 eine UN-Friedensmission weilt und dort 1975 eine, die Insel teilende, Pufferzone errichtet hat, wissen die wenigsten. Selbst Erasmus-Studierende stellen dies oft erst fest, wenn sie keinen Flug in das geteilte Nicosia buchen können. Spätestens aber, wenn sie nach Ercan (Nordzypern) geflogen sind und dann eine nicht anerkannte, jedoch faktisch existierende, sowohl außer- als auch innereuropäische Grenze in die Republik Zypern passieren müssen. Dabei wollten sie doch einfach nur unweit vom Strand und bei gutem Wein studieren.

Die EU hatte mit Zyperns Beitritt ihre Einflusssphäre strategisch, bewusst und betont vergrößert. Offiziell, de jure, wurde die gesamte Insel Mitglied, wobei de facto nur die Republik Zypern, der griechisch-zypriotischen Südteil, beitrat. In der selbst-proklamierten Türkischen Republik Nordzypern, die nur von der Türkei anerkannt wird, ist das EU-Recht nicht anwendbar, jedoch besitzen Nordzypriot:innen auch einen EU-Pass. Obwohl die EU ursprünglich die politische Lösung des Konflikts als Kondition für einen Beitritt stellte, wurde Zypern trotzdem, als monumentale Grauzone, aufgenommen. Dies war insbesondere für die türkischen Zypriot:innen bitter, die in einem Zwillingsreferendum für den Friedensvertrag, den sogenannten Annan-Plan (nach dem Vorschlag des damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan) stimmten. Denn die griechischen Zypriot:innen hatten dagegen gestimmt, wodurch er nicht zustande kam, jedoch kamen diese am Folgetag von nun an in den Genuss des vollwertigen EU-Bürgertums.

Zypern zeigt Europa also auch seine Grenzen im Konfliktmanagement und der Friedensbildung auf. Versprechen, dass ethno-nationale Konflikte innerhalb der EU von Bedeutung verlören und die EU die Nummer Eins Friedensmanagerin sei, haben sich nicht nur im gefrorenen Zypernkonflikt sondern auch im ehemaligen Jugoslawien als tendenziell leeres Versprechen herausgestellt. Schlichtweg auch, weil die realpolitische Prioritäten weit vom selbst-lobenden, romantischen Narrativ der Friedensstifterin liegen. Selbst innerhalb der EU hat die Ideologie von Supranationalität und Demokratie die ethnokratische Ideologie der Nationalstaaten nicht abgelöst. Gerade in ehemalig kommunistischen post-Transitionsländern, wo nur das Woher aber nicht das Wohin gesellschaftspolitisch ausgefochten ist, finden sich ebenfalls eingefrorene Minderheitenkonflikte, die sich immer wieder durch Brennpunkte ins Gedächtnis rufen.

Wie in einem enttäuschten, desillusionierten Realismus wehren sich manche solcher Staaten, wie Spanien, die Slowakei und Rumänien, aber auch Griechenland als ‚Mutterland‘ der griechischen Zypriot:innen und die Republik Zypern selbst gegen einen EU-Beitritt des Kosovo. Aus Angst vor einem ‚Fehlsignal‘ an die ‚heimischen Seperatist:innen‘. Müde argumentieren Expert:innen, dass Katalonien und der Kosovo nicht vergleichbar seien. Aber ja, die EU fürchtet ein ‚zweites Zypern‘. Nicht etwa die Konsequenzen des eigenen Handelns oder Nicht-Handelns, sondern die ‚Ungezähmten‘.

So zeigt Zypern Europa auch seine Grenzen der Solidarität und Aufmerksamkeit auf. In seiner Verunsichtbarmachung und Vergessenheit ist Zypern vielen jedoch schmerzlich präsent. Dieser vergessene, eingefrorene Konflikt befeuert andere. Gleichzeitig wird seine Zentralität verkannt. Das östliche Mittelmeer war zuletzt Bühne für brenzlige Energie- und Machtpolitik zwischen Griechenland und der Türkei, so ließ sich aus den Medien und den diplomatischen Kanälen vernehmen, die oft alarmistisch ein Neo-Osmanisches Reich und einen militärischen Konflikt zwischen NATO-Partnern vorhersahen. Dass der Gasstreit jedoch Projektionsfläche und Nebenschauplatz für Souveränitäts- und Territorialfragen war, die den Zypernkonflikt bis heute charakterisieren, es eigentlich um zypriotische Gasvorkommen ging, und der isolierte Fokus ohne zypriotische Dimension auf den Konflikt adäquate Analyse und Reaktion verhindert, blieb wenn überhaupt eine Randnotiz.

Die zypriotische Dimension europäischer Politik – sie zeigt Europas Grenzen. Wenn auch gleich sich in ihr vieles manifestiert, so treibt sie doch meist unerkannt und übersehen jenseits der Grenzen unseres Sichtfelds. Zum Leidwesen der Zypriot:innen, die sich vielleicht als einzige, insbesondere in Nordzypern, wahrhaft als ‚von Brüssel‘ abgehängt fühlen dürfen. Denn auch, dass die Finanzkrise und Austeritätspolitik dort viele härter traf als in Griechenland und welche Auswirkungen die humanitäre Krise geflüchteter Menschen oder die EU-Türkei Politik auf Zypern hat, schafft es selten in eine Zeitung. Aber, Grenzen sind da um sie zu überschreiten. Zypern ist ein Ort, an dem man sich insbesondere als Westeuropäer:in noch einmal anders wahrnimmt. So an der Grenze, an einem Nicht-Ort, lässt sich das Narrativ der europäischen Familie distanzierter und differenzierter wahrnehmen. Die Zypern-Linse auf die EU und uns selbst zu richten, kann also nur empfohlen werden, auch wenn es uns an unsere Grenzen bringt.