Mittelost- und Südosteuropa verbindet man heute unter anderem stark mit slawischen Sprachen und Nationen. Doch wo kamen die Vorfahren der heutigen Sprecher her und wie verbreiteten sich slawische Sprache(n) und Kultur in diesem Teil Europas? Dieser Frage geht dieser Text nach und behandelt die Ausbreitung der Slawen in Mittelost- und Südosteuropa im Zuge der Völkerwanderungszeit. Außerdem wird kurz auf deren erste Herrschaftsbildungen im weiteren Frühmittelalter eingegangen.

Eine „Urheimat“ der Slawen kann aufgrund fehlender Quellen nicht ausgemacht werden. Jedoch nimmt die Forschung an, dass die Slawen im 3.-5. Jahrhundert im nördlichen Karpatenvorland, d. h. auf dem Gebiet der heutigen Ukraine und in Süd-Polen siedelten. Von dort aus erfolgte im 6. und 7. Jahrhundert die Ausbreitung nach Westen, Norden und Südosten.[1]

Wie andere „Völker“ am Übergang von der Antike zum Mittelalter waren die Slawen jener Zeit keine zentral organisierte einheitliche Gruppe. Durch ihre Sprache und Kultur zwar verbunden, lebten sie in losen Verbänden. Einzelne Nationen wie Polen oder Kroaten bildeten sich erst mit späteren Herrschaftsbildungen einzelner Gruppen heraus und verfestigten sich über das Mittelalter.[2]

Militärisch organisiert wurden slawische Verbände im 6. und 7. Jahrhundert von den Reitervölkern der Awaren und den turksprachigen Proto-Bulgaren. Unter deren Führung unternahmen slawische Verbände immer wieder Raubzüge auf das Gebiet des byzantinischen Reiches, das zunehmend in die Defensive geriet. So siedelten nach und nach immer mehr Slawen auf dem Balken. Auch nach Pannonien, Böhmen, Mähren und ins Alpenvorland stießen Slawen bald vor. Die Ausbreitung slawischer Sprache und Kultur war neben den Wanderbewegungen der Slawen auch das Ergebnis komplexer Assimilations- und Akkulturationsprozesse von alteingesessenen Bevölkerungsgruppen und Neuzuwanderern. Ein gutes Beispiel hierfür sind die turksprachigen Proto-Bulgaren, die als eine Art Kriegerelite über eine Gruppe von Slawen herrschten, nach und nach aber „slawisiert“ wurden und ihre Sprache und Nomadentum aufgaben.[3]

Weniger durch Quellen belegt aber ebenso nachhaltig war die Ausbreitung der Slawen auf dem Gebiet des heutigen Polens und Ostdeutschlands ab dem 7. Jahrhundert, wo sie den zuvor abgewanderten Germanen nachrückten.[4]

Die erste dauerhafte Herrschaftsbildung erfolgte in den 680er Jahren durch die Etablierung des Ersten Bulgarischen Reiches auf ehemalig byzantinischem Gebiet. Ab dem 8. Jahrhundert sind am Balkan auch Kroaten und Serben als namentlich eigene Gruppen in Quellen belegt. Diese errichteten im 10. und 11. Jahrhundert eigene Königreiche. Weitere frühmittelalterliche Herrschaftsbildungen waren die Fürstentümer der Karantanen und Mährer im kärntener-slowenischen Raum bzw. in Böhmen und Mähren, die jedoch nur im 8. Jahrhundert Bestand hatten. Von längerer Dauer war hingegen das Reich der Kiewer Rus, das etwa zur selben Zeit auf dem Gebiet der heutigen Ukraine begründet wurde. Im Fall der Kiewer Rus handelte es sich um skandinavische Krieger, die eine Gruppe der Slawen politisch organisierten und als deren Elite, ebenso wie die bereits genannten Proto-Bulgaren, „slawisiert“ wurden.[5]

Als Epochengrenze der Völkerwanderungszeit in Mittelost- und Südosteuropa können die hier genannten Herrschaftsbildungen der Slawen und die Einwanderung der Ungarn im ausgehenden 9. Jahrhundert, die in einem eigenen Beitrag behandelt wird, gesehen werden.

 

Quellen:

[1] Slaven, in: Lexikon des Mittelalters, 10 vols. Stuttgart [1977]-1999, vol. 7, cols 2000-2001, in: Brepolis Medieval Encyclopaedias – Lexikon des Mittelalters Online

[2] Eduard Mühle: Die Slawen. München 2017, S. 10–18

[3] Eduard Mühle: Die Slawen. München 2017, S. 12–18; Walter Pohl: Barbarische Herrschaftsbildungen in Spätantike und frühbyzantinischer Zeit, in: Fritz Mitthof/Peter Schreiner/Oliver Jens Schmitt, Handbuch zur Geschichte Südosteuropas. Band 1: Herrschaft und Politik in Südosteuropa von der römischen Antike bis 1300. Berlin/Boston 2019, S. 590–594; Gottfried Schramm: Um 500 bis 900 auf geräumtem römischem Reichsboden: politisch-militärische Verbände von Eroberern und die zweite Christianisierung, in: Konrad Clewing/Oliver Jens Schmitt, Geschichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. Regensburg 2011, S. 31–43

[4] Eduard Mühle: Die Slawen. München 2017, S. 66 f.

[5] Eduard Mühle: Die Slawen. München 2017, S.33–66