Die kosovarische Bewegung für Selbstbestimmung – Lëvizja Vetëvendosje (VV) – ist laut und schrill. Sie ist politisch links in einem Land ohne sozialdemokratische Tradition. Sie ist systemkritisch und ein Teil des Systems. Sie will Bewegung sein und ist doch eine Partei. Wie kann sie in diesen Widersprüchen operieren?

Auf den ersten Blick funktioniert das heutige Kosovo als parlamentarische Demokratie. Die 120 Mitglieder des Parlaments werden alle vier Jahre gewählt. Sie bestimmen einen Premierminister aus ihrem Kreis und wählen einen Staatspräsidenten. Die Minderheiten (Serben, Türken, Fahrende et al.) haben reservierte Sitze und auf lokaler Ebene erfolgen Wahlen auf der Stufe der Grossgemeinde. Wer aber einen zweiten Blick wagt, merkt schnell: Es sind nicht nur die gleichen Leute, welche seit dem Krieg im Jahr 1999 in der Politik sind. Es sind stets die gleichen Netzwerke, die Politik machen und das wirtschaftliche Leben prägen, vielleicht sogar dominieren (Schneider & Schneider 2011). Ein dritte Blick macht es noch klarer: Internationale Präsenzen – die Vereinten Nationen (UN), die Europäische Union (EU), oder etwa die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) – begleiten das Land nicht nur, sondern sie zementieren die Machtballung jener Netzwerke. Erwartet wird im Gegenzug, dass das Land sogenannt „ruhig und stabil“ bleibt (Schneider 2012).

Es ist in diesem Zusammenhang zu verstehen, dass die VV aktiv wurde. Zunächst ging es dem urbanen Jungvolk – das sind nämlich ihre Mitglieder und Aktivisten – um die Selbstbestimmung des Kosovo. Sie wollten so schnell wie möglich unabhängig werden und so schnell wie möglich die internationalen Präsenzen loswerden. Auch wenn zugegebenermassen viele dieser Aktivisten schon immer „typisch linke“ Anliegen vertraten, wurde die neo-68er-Ideologie erst spät zur dominierenden Ausrichtung der Bewegung. Nämlich dann, als sie merkte, dass die Kollusion von internationalen Präsenzen und lokalen Netzwerken zur Oligarchen- und Systembildung führte. Albin Kurti, der Anführer von VV, meinte, nur mit einem linken sozialdemokratischen Programm liesse sich diese Kollusion brechen (Delafrouz 2011, Visoka 2012).

VV selbst war lange nur in Städten aktiv. Da die Bewegung auf die Sprengung „traditioneller“ Netzwerke setzte, wurde sie insbesondere auf dem Land abgelehnt. Und selbst in den Städten war sie lediglich auf Studenten – selbst Produkte des Systems – beschränkt. Mit zum Teil gewalttätigen Protesten machte sie ihre Anliegen kund und sich selbst bemerkbar. Trotz ihres Einzugs ins kosovarische Parlament im Jahr 2011 sieht sich Vetëvendosje immer noch als Bürgerbewegung. Die Fremdsicht ist aber anders: Sie wird nunmehr als gewöhnliche politische Partei eingestuft und damit definitiv als Teil des Systems. Deshalb wird sie auch von den internationalen Präsenzen und bestehenden „Oligarchen-Netzwerken“ umgarnt  (Schwandner-Sievers, 2013).

Dieser Aufsatz untersucht VV in ihrem Wandel und fragt, ob die Bewegung nun Teil des Systems ist, das sie auflösen wollte. Zunächst wird das „System“, das heute im Kosovo besteht, dargestellt. Dann soll auf die kurze Geschichte von VV eingegangen werden. Dann wird diskutiert, was das Systemkonforme und das Systemkritische in ihren Anliegen und in ihrem Politisieren ist.

1.     Das Kosovo: Doppeltes Doppelspiel

Das Kosovo war bis zu seiner Unabhängigkeitserklärung im Jahr 2008 ein Teil Serbiens. Als es der albanischen Bevölkerungsmehrheit klar wurde, dass das Abkommen von Dayton im Jahr 1995 keine Verbesserung ihrer Lage bringen würde, wurde es nur noch zur Frage der Zeit, bis es zu einer gewaltsamen Loslösung von Serbien kommen würde. Das fand dann im Jahr 1999 statt. Seit dem befinden sich im Kosovo eine UN Verwaltung (welche zwischen 1999 und 2008 so etwas wie eine Protektoratsregierung war) sowie eine ausländische militärische Präsenz (die Kosovo Force KFOR). Seit der Unabhängigkeit begleitet die EU das Land mit einer technischen Mission im Justiz- und Polizeibereich (EULEX). Noch andere internationale Präsenzen und eine Vielzahl sogenannter Nichtregierungsorganisationen sind ebenfalls zugegen.

Seit der Einsetzung des Protektorats bemüht sich die UN um den Aufbau eines demokratischen, parlamentarischen Systems sowie der sogenannten Zivilgesellschaft im Kosovo. Die militärische Seite ist an Ruhe und Ordnung interessiert. Um diese Ziele zu erreichen, setzen diese (und alle) internationale Präsenzen auf die Kooperation mit der lokalen „Elite“. Wer diese Elite ist und wie sie funktioniert, war um das Jahr 1999 den internationalen Präsenzen unbekannt. Sie stützen sich auf jene Albaner und Serben im Kosovo, die sich Kommandanten im Krieg nannten oder lokal gut verankert waren. Sie gaben ihnen Macht und legitimierten ihre Stellung im neuen Staatswesen. Dieses System besteht noch heute. Und vor allem: Die internationalen Präsenzen akzeptieren mehrere Doppelspiele, um ihre Ziele zu erreichen (Schneider & Schneider 2011, Schneider 2012).

Das erste Doppelspiel war und ist folgendermassen: Auf der einen Seite spielten diese Eliten die ihnen zugedachte Rolle. Sie liessen sich in Parlamente wählen, schrieben Gesetze, kreierten Nichtregierungsorganisationen, diskutierten das multikulturelle Zusammenleben und bauten Gewaltenteilung auf. Sie tun es heute noch. Auf der anderen Seite spielen sie eine viel wesentlichere Rolle in den Netzwerken, in denen sie verankert sind. Sie stellen die „richtigen“ Leute in die „richtigen“ Posten, wandeln Netzwerkeffekte in ökonomische Vorteile um, steuern Staatsinstitutionen weg von brisanten Situationen und gewährleisten, dass lokale und Netzwerkinteressen stets berücksichtigt werden. Kurzum: Diese Eliten bilden Oligarchien (King & Mason 2006 – sehr kritische Quelle).

Die UN und die anderen internationalen Präsenzen lassen dies aus drei Gründen zu: Erstens aus Unkenntnis. Den “Internationalen” war praktisch nichts über das Land und die Leute bekannt, sie hatten höchstens Vorurteile. Noch heute ist das Wissen über das Kosovo in den internationalen Präsenzen Mangelware. Zweitens können die internationalen Präsenzen jene Dynamik nicht unterbinden, ohne Ruhe und Ordnung zu riskieren. Und da sie Ruhe und Ordnung unter allen Umständen und egal zu welchem Preis sichern wollen, nehmen sie das Doppelspiel, als eben den Preis für Ruhe und Ordnung, entgegen. Drittens spielen die „Internationalen“ selbst ein Doppelspiel. Und das ist eben das Zweite Doppelspiel im „System Kosovo“. Einerseits sollten die internationalen Präsenzen ein Land aufbauen aber andererseits waren sie dabei, dem Land eine externe Ordnung aufzuoktroyieren (so beteiligt sich beispielsweise die Schweiz heute noch an der KFOR). So werden auch Grossgemeinden gebildet, gespaltet und fusioniert, ohne die lokale Bevölkerung einzubeziehen. So wird auch ein Privatisierungsprogramm gefahren, ohne dass die Eigentümerstrukturen der zu privatisierenden Entitäten im Voraus überhaupt abgeklärt wurden (Schneider 2012).

Das doppelte Doppelspiel der lokalen Eliten und der internationalen Präsenzen führte also zu einem System, das von politischer wie ökonomischer Machtballung und Netzwerkverbindung geprägt ist. Institutionen existieren zwar formell, doch sie supervenieren und gehen auf meist nicht erkennbaren praktischen Arrangements ein, die man am besten im Englischen als „Deals“ bezeichnen könnte (Schneider 2016 befasst sich intensiv mit diesen doppelten Doppelspielen, allerdings weniger kritisch als King & Mason 2006).»

2.     Lëvizja Vetëvendosje! – sozial und vor allem national

Es ist in diesem Umfeld, in dem sich die Bewegung für Selbstbestimmung entwickelte. Sie kam aus der gleichnamigen „zivilgesellschaftlichen“ Bewegung, die auf das 1997 gegründete „Kosovo Action Network“ zurückzuführen ist. Albin Kurti, der Anführer der Bewegung, war damals ein Student der Elektrotechnik im albanischen Untergrund-Bildungssystem. Der junge charismatische Führer getraute sich einerseits öffentlich für die Unabhängigkeit des Kosovo zu sprechen und andererseits – zusammen mit einem weiteren «Nationalhelden», Adem Damaçi – Positives über die kosovarische Befreiungsarmee UçK zu sagen. Das war ein Tabu-Bruch, weil die UçK damals als ländliche und für städtische Intellektuelle unwürdige Bande von Raufbolden galt. Kurti war einer der ersten, der die Stadt-Land Unterschiede überbrückte und so den Weg für einen gesamt-kosovo-albanischen Kampf freimachte. Einerseits wurde er deswegen als internationaler Sprecher der UçK portiert, andererseits wurde er auch deswegen von der serbischen (korrekter: jugoslawischen) Seite zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Nach dem Unabhängigkeitskrieg und der Installation des UN-Protektorats sowie der anderen internationalen Präsenzen baute Kurti VV aus. Zunächst ging es der Bewegung darum, eine schnelle Unabhängigkeit des Kosovo zu erzielen. Als dies zunehmend unwahrscheinlicher wurde, gab sich die Bewegung ein Gesamtprogramm. Dieses bestand aus den folgenden Elementen: Unabhängigkeit des Kosovo, Ablösung der internationalen Protektoratsregierung über das Kosovo, Selbständigkeit der Kosovo-Albaner, mögliche Union mit Albanien und Aufbau eines umfassenden Sozialstaates. VV setzte dabei darauf, das UN-Protektorat und die mit ihm kooperierenden «Eliten» als illegitim darzustellen. Insbesondere der Lokalbevölkerung sollte vor Augen geführt werden, wie undemokratisch, willkürlich, kolonialistisch und bevormundend die nationalen und internationalen Oligarchien agieren.

Demzufolge wäre Kurti und seine Gruppe auf nationale und linkslastige Forderungen zu reduzieren, falsch. Immerhin war VV die einzige nationale oder internationale Organisation, welche öffentlich die vorher erwähnten doppelten Doppelspiele kritisierte. Mehr noch: Kurti führte Demonstrationen auch gegen die lokalen „Eliten“ an, die sich in Netzwerk-Oligarchien verwandelten. Nur VV prangerte die lokale Korruption an und nur VV recherchierte die problematischen Details der vom UN-Protektorat forcierten Privatisierungen. Bis etwa zur Unabhängigkeit des Kosovo im Jahr 2008 verblieb die VV ein Produkt der Städte. Denn auf dem Land herrschte ein anderes Narrativ: Zwar waren Korruption und Bildung von Oligarchien allgemein bekannt, doch die schob man den internationalen Präsenzen in die Schuhe (Schneider 2016).

Doch als das Kosovo unabhängig (de facto) wurde und das, was als ökonomischer Stillstand, Korruption und Bildung von Oligarchien wahrgenommen wurde, nicht aufhörte, fing auch die Landbevölkerung an, viel kritischer zu werden. Und weil VV die einzige Oppositionskraft war, fing sie die Kritischen und Unzufriedenen auf. Zunehmend wandte sich die ländliche Bevölkerung der Bewegung hin. Sogar ehemalige Kombattanten – Veteranen – und andere Desillusionierten sympathisieren zusehends mit Kurtis Organisation. Im Jahr 2010 wurde VV formell als eine politische Partei registriert und stellt mit Shpend Ahmeti derzeit den Bürgermeister von Prishtina, der Haupt- und grössten Stadt des Landes. 2010 konnte die Gruppe bei den Parlamentswahlen knapp 16 Prozent der Stimmen gewinnen, im Jahr 2014 waren es sogar über 20 Prozent. Heute ist VV die drittgrösste Fraktion im kosovarischen Parlament mit 16 Sitzen (von 120); der von ihr angeführte Oppositionsblock hat 33 Sitze. In dieser Zwischenzeit erweiterte VV ihr politisches Programm um Arbeitnehmerrechte, Stärkung der Frauen, Abbau von sexueller Repression, Umweltschutz und weitere „linke“ Anliegen. Damit ist VV nicht nur eine Opposition. Sie ist auch die einzige programmatische Vertretung der politischen Linke in der kosovarischen Politik.

Aber VV hat auch einen blinden Fleck – der ausgeprägte albanische Nationalismus. Ein ehemaliges Mitglied von VV formuliert es so: „Ganz oben auf der Agenda steht die albanische Nation. Alles, was darin keinen Platz hat, wird prinzipiell erst einmal als Problem betrachtet. Und derzeit ist die serbische Minderheit nicht nur ein Problem, sondern das Feindbild schlechthin. Wenn die Vetëvendosje irgendwann die Wahlen gewinnen sollte, sieht es für alle Minderheiten im Kosovo düster aus (anonyme Quelle, dem Verfasser bekannt, Gespräch im Dezember 2016).“

3.     Systemkritik von innen oder kritische Angepasstheit?

Systemkritik ist das Wesen von Vetëvendosje. VV interpretiert die jüngere Geschichte des Kosovo und seine heutige Situation als Folge der fehlenden Rechte zur Selbstbestimmung. Daraus leitet sie ihre vordergründigen Forderungen ab, nämlich sowohl die Beendigung der direkten Einflussnahmen ausländischer Akteure in die Angelegenheiten des Kosovo, als auch die Vereinigung des Kosovo mit Albanien. Mit ihrem Mix aus Nationalismus, Antikapitalismus und Antikolonialismus kommt VV bei der Bevölkerung zunehmend gut an. Auch ihre Erklärung für die Misere im Kosovo leuchtet vielen ein: Die korrupte Elite ist abhängig von ihren westlichen Brotherren. Um das Land weiter ausplündern zu können, fügt sie sich den „Internationalen“.

Ebenso systemkritisch agiert VV innerhalb der systemischen Institutionen. Nicht selten setzt die Bewegung auf das bewusste Überschreiten von Linien im Parlament. Seit mehreren Monaten blockiert VV das Parlament durch das Zünden von Tränengaspetarden. VV, die sich nicht so sehr als Partei, sondern vor allem als Bewegung versteht, mobilisiert Proteste auf der Strasse. Zum Beispiel gelang ihr, im November 2015 um die 10’000 Leute zu einer Demonstration zu bewegen. Danach stürmten Sondereinheiten den Parteisitz von Vetëvendosje und verhafteten über sechzig Personen, unter ihnen auch Albin Kurti. Doch da Kurti Parlamentarier ist, verstösst die Verhaftung gegen seine parlamentarische Immunität. Diese ist in Kosovo umso wichtiger, als die Gewaltenteilung schwach ausgestaltet ist. Als Opfer von Repression bezeichnet sich auch Sami Kurteshi, der bis im Sommer 2015 der Ombudsmann des Kosovo war. Während der Demonstration wurde er am Boden sitzend von Polizisten zusammengeschlagen – viele vermuten darin eine Abrechnung mit seinen regierungskritischen Stellungnahmen. „Nach der Polizeiaktion veröffentlichten die Botschafter der „Quint“ (USA, Grossbritannien, Frankreich, Italien, Deutschland) ein Schreiben, in dem das Vorgehen der Ordnungskräfte unterstützt wird. Nur Deutschlands Unterschrift fehlt. Beobachter deuten dies als Kritik Berlins am fragwürdigen Vorgehen der Regierung“ (Wölfl 2015).

Das Programm, die Aktivitäten und sogar die Art des kosovarischen Staates, mit der VV umzugehen, legen nahe, es handle sich um eine echte Opposition, welche System- und Oligarchienkritik betreibe und entsprechend handle. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Denn die andere zeigt: Auch VV ist Teil des Systems und wird immer mehr von ihm absorbiert.

„VV versucht, jede aufkommende linke Bewegung in die Partei zu integrieren“ so die oben erwähnte anonyme Quelle. „Das schränkt die Dynamik linker Initiativen immer wieder ein.“ Diese These liesse sich überspitzen: VV hat ein Interesse, die einzige Kraft in der politischen Linke des Kosovo zu sein. Möglicherweise hat sie auch ein ähnliches Interesse, das Oppositions-Monopol für sich zu beanspruchen. Wenn dem so wäre, würde sie selbst zu einem Machtsystem werden. Sie selbst würde die Deutungshoheit über die Kritik an den aktuellen Staatsaufbau für sich alleine beanspruchen. Ob das dem Land gut tut, kann hinterfragt werden. Die Widersprüche der Bewegung zeigen auf, wie sie selbst zu einem Machtsystem geworden ist und jedes Interesse hat, eines zu bleiben.

VV versteht sich als albanisch-nationale Bewegung. Derzeit polemisiert sie gegen Kosovo-Serben. Ihre Erklärung dafür ist vermeintlich einleuchtend: Würden die Serben die albanische Nation akzeptieren und die Serben im Kosovo Treue zur albanischen Nation schwören, würde VV die Serben mit offenen Armen willkommen heissen. Das Problem ist nur: Einen Treueschwur der Serben auf das Albanische zu verlangen, ist als ob man von den Homosexuellen – einer Gruppe, für deren Rechte sich VV einsetzt – verlangen würde, das Heterosexuelle als „höherwertiger“ anzuerkennen. VV stellt an die Kosovo-Serben Forderungen, von denen sie weiss, dass sie unerfüllbar sind. Das ist ein Kennzeichen eines Machtsystems.

Zudem ist VV zunehmend im politischen System des Kosovo integriert. Der oben angedeutete Fall, um die Demonstration und Verhaftung Kurtis, zeigt exemplarisch, wie sehr VV ausserparlamentarische Opposition und parlamentarischer Akteur zugleich ist. Kurti berief sich auf seine Immunität als Parlamentarier, um nicht verhaftet zu werden. Während die Vernunft dieser Handlung keinesfalls in Frage gestellt werden kann, zeigt die Handlung auf, wie sich VV in zwei Welten bewegt und bewusst Elemente beider bedient: Partei und Bewegung; Opposition und Machtsystem; mit Interesse an der Diversität der Zivilgesellschaft aber mit dem Anspruch der Deutungshoheit im linken Lager; Schutz der Minderheiten aber Ausschluss der Kosovo-Serben.

In einem jedoch ist VV konsequent: Ihre Weste ist weiss. Bisher gibt es weder Korruptionsfälle, die in Verbindung mit der Bewegung stehen, noch gibt es Vorwürfe des Missbrauchs parlamentarischer und anderer staatlichen Instrumente. Und Kurti sowie seine Partei bleiben hart in der Kritik der lokalen Oligarchen. Des Öfteren versuchten Oligarchen, VV zu kooptieren, aber ohne Erfolg (Schwander-Siewers 2013). Shpend Ahmeti, der VV-Bürgermeister der Hauptstadt Prishtina setzt die städtischen Regularien durch und ist sogar dafür bekannt, die Oligarchen, die im Widerspruch zu diesen Regularien stehen und handeln, zuerst, hart und öffentlichkeitswirksam dranzunehmen. Zwar wird das System, das VV kritisiert, eingesetzt; aber es wird eingesetzt um die Ziele der Bewegung zu erreichen und den Oligarchen – zwar weniger wichtige aber immerhin – Grenzen aufzuzeigen. Und weil sich bisher lediglich in der Hauptstadt ein Politiker getraut, Oligarchen in Grenzen zu setzen, und weil dieser Politiker der Vetëvendosje angehört, steht die ganze Bewegung im Ruf, die einzige oligarchien-kritische Gruppe im Kosovo zu sein. Mehr noch: Sie handelt entsprechend.

Dieser Ruf ist wohl verdient. Und das ist auch das Ergebnis dieser Untersuchung. Die Lëvizja Vetëvendosje ist die einzige Gruppe im zeitgenössischen Kosovo, die kritisch gegenüber lokalen Oligarchen ist. Sie ist auch kritisch gegenüber dem „System Kosovo“, aber hier mit Abstrichen. Der erste Abstrich ist wohl, dass sie selbst Teil vom System geworden ist und gerne die Instrumente des Systems in Anspruch nimmt. Der zweite ist, dass sie selbst ein Machtsystem ist, das ein Monopol auf alle Oppositionsbewegungen und das gesamte linke Gedankengut beansprucht.

 

Bibliographie

Ghazal D. (2011). Vetevendosje. A minor field study of the Kosovo Albanian resistance movement. Lund University paper, http://lup.lub.lu.se/luur/download?func=downloadFile&recordOId=1405441&fileOId=1414996

King, I., & Mason, W. (2006). Peace at any price: how the world failed Kosovo. Cornell University Press.

Schneider, C., & Schneider, H. (2011). Kosovo: Die Situation zweier Narrative. Zeitschrift für Balkanologie, 47(1).

Schneider, H. (2012). Normatives und Faktisches Sozialkapital: Theorie und Praxis externer Intervention im Kosovo. Zeitschrift für Balkanologie, 48(1).

Schneider, H. (2016). Indifferenz, Gegnerschaft, Identität. Veränderungen im politischen Verhältnis von Dorf und Staat im Kosovo. Berliner Wissenschafts-Verlag.

Schwandner-Sievers, S. (2013). Democratisation through Defiance? The Albanian Civil Organisation ‘Self-Determination’ and International Supervision in Kosovo. In: Civil Society and Transitions in the Western Balkans. Palgrave Macmillan.

Visoka, G. (2012). International Governance and Local Resistance in Kosovo: the Thin Line between Ethical, Emancipatory and Exclusionary Politics. Irish Studies in International Affairs, 22 (1).

Wölfl, A. (2015). Nach Albin Kurtis Verhaftung spitzt sich Lage im Kosovo zu. In: Der Standard, http://derstandard.at/2000026802803/Nach-Verhaftung-von-Kurti-spitzt-sich-Lage-im-Kosovo-zu


 

 

Wir bedanken uns beim Gewinner des FOMOSO Beitragsaufruf 2016 Herrn Henrique Schneider für seinen ausgezeichneten Beitrag. Herr Schneider hat die Machtverwicklungen im Kosovo pregnant dargestellt. Die Oligarchie spielt dabei auch eine gewichtige Rolle. Dies kam in seinem Beitrag sehr gut zum Ausdruck. Das sind nur zwei beispielhafte Gründe, weshalb Herr Schneider zu einem der Gewinner erkoren wurde. Wir gratulieren!